Produktion und Reproduktion: Arbeit und Fotografie

Produktion und Reproduktion: Arbeit und Fotografie

Organisatoren
Westsächsisches Textilmuseum Crimmitschau; Institut für Sächsische Geschichte Volkskunde e.V. (ISGV)
Ort
Crimmitschau
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.04.2009 - 25.04.2009
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Von
Ursula Schlude, Berlin

Fotografien aus der Arbeitswelt täuschen nicht, könnte man meinen. Im Topos der Arbeit scheint die Verlässlichkeit des Realen gegeben. Indes, – so lassen sich die Beiträge auf der Tagung „Produktion und Reproduktion: Arbeit und Fotografie“ zu einer grundsätzlichen Ein-wendung zusammenfassen –, „medial unschuldig“ ist Fotografie auch dann nicht, wenn sie so handfeste Dinge wie Stanzmaschine, Fließband, Fabrikhalle, Teamsitzung, proletarische Wohnung, Arbeiterdemonstration oder Betriebsfeier abbildet. Fotografien zum Thema Arbeit seien komplexe Sinnstiftungen, so WOLFGANG HESSE in der Einführung zur Tagung. Die besonderen „Blicke“, die das Bild generierten, können medien- und kulturgeschichtlich analy-siert werden.

Die Tagung fand in Kooperation des veranstaltenden Westsächsischen Textilmuseum Crim-mitschau mit dem Dresdner Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (ISGV) statt. Sowohl in die Praxis des Museums wie des Forschungsinstituts integriert, stand die zweitägige Veranstaltung im Zusammenhang mit dem DFG-Projekt „Das Auge des Arbeiters“ am ISGV, das die Publikation der Beiträge noch in diesem Jahr vorzulegen plant. Neun Fallstudien wurden präsentiert. Sie veranschaulichten, wie die meist dokumentarisch begrif-fene Fotografie der Arbeit als geformtes und mit sozialer Bedeutung aufgeladenes Kulturpro-dukt funktioniert. Soziologische, kulturwissenschaftliche, kunsthistorische und volkskundliche Betrachtungsweisen kamen dabei zur Anwendung.

Um 1900 begann die philantropische Publizistik die Fotografie als Beweismittel zu nutzen für angeprangerte Missstände, die einem juristischen und sozialpolitisch engagierten Fachpubli-kum vor Augen geführt werden sollten. In seinem Vortrag „Der Blick nach unten. Fotografi-sche Sozialdokumentation im frühen 20. Jahrhundert“ deutete RUDOLF STUMBERGER (München/Frankfurt) die Fotopraxis, die solche Bilder realisierte, unter anderem am Beispiel eines Bildbands von 1908 (E. Kläger/H. Drawe, Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens – ein Wanderbuch aus dem Jenseits). Um die soziale Distanz zu ihren Objekten zu verringern, verkleideten sich die Dokumentaristen als Arbeiter, stiegen mit Blitzlicht und Kamera in die städtische Kanalisation ein, wo das Lumpenproletariat Wiens seine Bleibe hat-te. Die (zurecht) erschrockenen Blicke der Fotografierten manifestieren den bürgerlichen Blick von „oben“. Die Bilder führen vor, denunzieren fast. Sie wirkten durch Authentizität, die zu erbringen nicht immer einfach war. Aus politischen wie fototechnischen Gründen war es ungleich schwieriger, etwa die unhaltbaren Zustände in einer Fabrik oder Kinderarbeit vor Ort fotografisch zu „beweisen“.

Fotografieren auf gleicher Augenhöhe mit dem Ziel, kritische Bilder von der Arbeit im Kapi-talismus zu liefern, war die Praxis der sogenannten Arbeiterfotografen der 20er Jahre, Män-nern, die der KPD nahestanden und die Kamera – nicht ohne Pathos – als Waffe verstanden. WOLFGANG HESSE (Dresden) legte in seinem Vortrag „Die Eroberung der beobachtenden Maschinen. Zur Utopie selbstbestimmten Lebens in der Arbeiterfotografie der Weimarer Re-publik“ dar, was dieses Programm implizierte. Die Medienexperten der KPD versuchten die Arbeiterfotografen in eine Schule der Fotoreportage einzubinden und erklärten den „Blick in die Kamera“ zum Tabu. In der Bildtradition der Arbeiterbewegung prägte diese Blickrichtung das stolze Selbstbild von Streikenden und Demonstrierenden. Nun sollten die Arbeiterfotografen „natürliche“, „nicht gestellte“ Fotos machen, Arbeitsplatz, Demonstration, Versammlung, Schikane der Polizei so fotografieren, dass die Zeitschriften der proletarischen Gegenöffentlichkeit, allen voran die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, sie wie Profi-Fotos verwen-den konnten. Die subjektive Erinnerungsfunktion des Amateurfotos, das „Sich zum Bild den-ken“ (Roland Barthes), war nicht mehr erwünscht.

Mit dem Beitrag „Der industrialisierte Fluss. Elbschifferalltag auf Fotografien von Emil Zöll-ner (1879-1948)“ stellte ANDREAS MARTIN (Dresden) einen einzigartigen fotografischen Nachlass vor, der ausschließlich Fotografien von Menschen enthält, die am Fluss und vom Fluss lebten: Flößer-, Schiffer- und Fischerfamilien an der Elbe. Mit dokumentarischer Kon-sequenz wurden die einzelnen Arbeitsschritte dieser Flussberufe von Anfang bis Fertigstellung ihrer „Produkte“ in Serie fotografisch festgehalten. Der sächsische Lehrer, Rundfunkpublizist und Geschichtenerzähler Emil Zöllner fand erst spät zum Fotografieren, Ende der 30er Jahre. Seine Fotos waren professionell, aber seine „mediale“ Haltung dazu war es nicht. Von ca. 600 Fotografien sind bisher nur wenige publiziert worden. Die Elbe als Arbeitsplatz und Arbeits-landschaft wurde nie mehr so umfassend fotografiert. Der Fotograf war in der NS-Partei und Mitglied in der Reichsschrifttumskammer. Seine Bilder entsprachen den Doku-mentationsvorstellungen der NS-Volkskunde zwar vom Stil her, so Martin, seien aber weder datiert noch sonst wie näher bestimmt worden.

Eine Variante der Industriefotografie erläuterte UTA BRETSCHNEIDER (Kloster Veßra) in ihrem Beitrag „Grüße aus Amerika. Postkarten zur Textilsiedlung ‚Amerika’ in Sachsen als Quellen der Industriegeschichte“. Wegen des eigentümlichen Namens hat die 1836 gegründe-te und inzwischen (im Zuge der Abwicklung der 1990er Jahre) stillgelegte Spinnerei an der Zwickauer Mulde ihre Beliebtheit als regionales Postkartenmotiv bis heute nicht eingebüßt. Die Fotopostkarte aus „Amerika“, um 1900 erstmals aufgetaucht und kontinuierlich verbreitet, bediente sich des Motivs Fabriksiedlung von Beginn an in einer wenn nicht scherzhaften so doch vertuschenden Weise. Die großen Fabrikgebäude erscheinen minimiert und eingegrenzt von Natur, wie Beiwerk zu Wald und Wasser. Schornsteine verschwinden hinter Bäumen. Es gibt weder Innenansichten der Fabrik noch Bilder von Menschen. Immerhin 900 Textilarbeiterinnen waren zuletzt hier beschäftigt. Ihre Arbeit bleibt unsichtbar. Doch kann die gewitzte Postkartenkreation ursprünglich wohl am ehesten mit dem Bedarf der von außerhalb Sachsens eingewanderten Arbeiterinnen in Verbindung gebracht werden, wie Moderator ULRICH HESS ergänzend anmerkte.

Fotografien von der Arbeit passen schwerlich ins Genre des coffee-table-book. Und doch ent-standen von 1930 bis etwa 1960 großformatige repräsentative Bildbände mit wenig Text in ungewöhnlicher Aufmachung zum Thema Arbeit. Mit ihnen profilierte sich ein neuer Typ des Industriefotografen, der sich als Vermittler einer Ästhetik des Technischen verstand. In ihrem Vortrag „Schönheit der Arbeit? Kontinuitäten und Brüche“ skizzierte MIRIAM HALWANI (Berlin/Hamburg) anhand von drei in Deutschland erschienenen Bänden – „Deutsche Arbeit“ von 1930 (E.O. Hoppé), „Arbeit“ von 1934 (P. Wolff) und „Deutschland arbeitet“ von 1954 (K. Ockhardt) – eine neue Gattung der Fotografie der Arbeitsstätte. Sie habe die Großar-tigkeit eines Arbeitsgeräts mit dem Pathos des freien (in der NS-Zeit: deutschen) Unterneh-mertums und der Existentialität menschlichen – vornehmlich männlichen – Arbeitens sowohl in Schwarz-Weiß als auch in Farbe in beeindruckender Weise miteinander verknüpft. Die zeit-lich/politisch bedingten Akzente sind jedoch weniger am Fotostil erkennbar, – über die ge-samte Zeitspanne hinweg blieb der neusachliche Stil verbindlich –, als an den sparsamen Bei-texten, in expressionistischer Anmutung, Hitler-Zitat oder Wirtschaftswunderformel.

Der Beitrag von PETRA STEINHARDT (Essen/Leipzig) „Produktiver Moment und Seriali-tät. Zur Industriefotografie von Peter Keetman“ vertiefte das Thema. Ein ebenfalls noch nicht vollständig erschlossener fotografischer Nachlass (Museum Folkwang Essen) und fehlende biographische Details lassen den 1916 geborenen bedeutendsten Werbe- und Industriefotogra-fen der Nachkriegszeit immer noch wenig profiliert dastehen. Dabei sind seine – 1953, ohne kommerziellen Auftrag entstandenen – seriellen, sezierenden Blicke auf Kotflügelstapel im VW-Werk Wolfsburg und die Künstlichkeit der von ihm geschaffenen Bildräume für die Werbefotografie der Industrie „Kult“ geworden. Die Motive blenden den Menschen in der Arbeitswelt weitgehend aus. Keetmans Visualisierungen wurden zunächst als nicht angemes-sen für die seriöse Selbstdarstellung eines deutschen Unternehmens empfunden. Die „Schön-heit des unfertigen Teils“ fand dann aber doch Anklang und ist heute aus den Hochglanzbro-schüren börsennotierter Industrieunternehmen nicht mehr wegzudenken.

Ein Segment der Industriefotografie ist die Betriebsfotografie. In ihrem Mittelpunkt steht die Belegschaft. Die Bilder ihrer Betriebsfeiern, Jubiläen und Ausflüge bleiben meistens im Ama-teurhaften stecken und sind nicht zuletzt hierdurch wichtig für das Gemeinschaftsgefühl. Die Betriebsfotografie eines „nicht parlamentarisch kontrollierten Sicherheitsdienstleisters“ analy-sierte KARIN HARTEWIG (Göttingen) in ihrem Beitrag „Corporate Identity der besonderen Art? Die Staatssicherheit in ihren eigenen Fotografien“. Die überwältigende Zahl dieser be-triebsinternen Fotos korrespondiert in durchaus systemhafter Weise mit den Erinnerungen der ehemaligen MitarbeiterInnen an die bis heute lebendige Kameradschaftskultur. Die Fotos ga-ben Zeugnis ab, das belastete, sie entbanden die Belegschaft aber auch vom inkognito und wirkten so entlastend. Sie durften nicht mit nach Hause genommen werden. In den Schau-Ecken der Firma bildeten sie daher eine visuelle Exklusivgemeinschaft von miteinander Ver-schworenen. Die sichtbaren Insignien des Privilegs – der Whirlpool im betriebseigenen Fit-ness-Center, der Früchtekorb mit Bananen – verstärkten das Wir-Gefühl.

Einen verstörenden und grundsätzlich skeptischen Blick in die Arbeitswelt zu werfen, versag-te sich die dokumentarische Fotografie, weil sie mit dem erbrachten Abbild einen aufkläreri-schen oder aufbauend-pathetisierenden Zweck verfolgte. Das frühe sozialdokumentarische Foto trug den Moment des Schreckens allenfalls als Begleiterscheinung in sich, auch die durch ihre Kälte befremdlich wirkende moderne Industriefotografie ist nicht von der Absicht geprägt, Verstörung zu erwirken. STEFANIE HOCH (Linz) stellte in ihrem Vortrag „Das Ende der Illusionen. Die Mappe ‚Arbeit’ von Gundula Schulze Eldowy“ eine Künstlerin vor, der es um den absichtsvollen Effekt des Verstörens ging. Ihre Fotografien von Arbeitenden seien Gegenbilder zur optimistischen Arbeitsauffassung gleich welcher politischen Couleur. Das Interesse der Fotografin gilt der „angefügten Position“ des Menschen an die Maschine, an die zu putzende Klobrille, an den Heizkessel, in den hineingekrochen werden muss. Zu sehen ist der arbeitende Mensch nur in Versatzstücken. In grobkörniger Silbergelatine-Qualität zum widerstrebend Schönen stilisiert, gewinnt der melancholische Blick der Fotografin durchaus systemsprengende Kraft. Traurigkeit provozierte, zumal in der Deutschen Demokratischen Republik, wo Gundula Schulze Eldowy Mitte der 1980er-Jahre die Mappe „Arbeit“ kreierte.

Mit dem letzten Beitrag machte die Tagung einen Sprung in die Gegenwart, in der Sprache der Arbeit die Epoche der Deindustrialisierung. Kommt hinzu, dass auch die Fotografie von ihrem „soliden“ analogen Zustand in den digitalen Modus übergetreten ist und neue Spielarten der Manipulation nutzt. JULIA FRANKE (Berlin) analysierte in ihrem Vortrag „Bilder der Dienstleistungsgesellschaft. Zur fotografischen Repräsentation von Arbeit im digitalen Zeital-ter“ die Websites von deutschen Firmen. Im Vergleich mit älteren Selbstdarstellungen der Unternehmen, die noch ein Produkt, eine Hierarchie innerhalb der Belegschaft und konkrete Betriebsräume für vorzeigbar halten, überwiegt in der gegenwärtigen Präsentation das Bild vom egalitären Miteinander vor dem Laptop, in multinationaler und geschlechtlich ausgewo-gener Konstellation. Da das Produkt Dienstleistung bildlich schwer zu fassen ist, müssen die dargestellten Personen, in der Regel „gecastete“ Models, kommunikativ stark wirken. Das Vertrauen in die Bildkraft der eigenen Belegschaft scheint verloren. Der attraktive Arbeits-platz, im Beispiel die Gläserne Manufaktur in Dresden, soll als Bühne verstanden werden, auf der Spektakuläres geschieht. Die Arbeitenden sind selbstvergessen und zugleich selbstreguliert am Werk.

Zum Programm der Tagung gehörte auch eine Führung durch die stillgelegte Textilfabrik (Heidemarie Fliegner, Horst Vetterlein). Die subtile Art und Weise, in der ihre Umrüstung zum „Westsächsischen Textilmuseum Crimmitschau“ vonstatten geht, beeindruckte die Ta-gungsteilnehmer/innen ebenso wie eine aktuelle Fotoausstellung von Thomas Bachler und Karen Weinert zu (fiktiven) neuen Berufen des 21. Jahrhunderts.

Als Leitbild der Tagung diente eine Fotografie aus Crimmitschau von 1903/04. Es zeigt Textilarbeiterinnen in Sonn-tagskleidung, die sich zum Gedenken an den Streik um den Zehnstundentag aufgestellt haben. Ihr Blick in die Kamera ist ungehindert.

Konferenzübersicht:

Rudolf Stumberger (Frankfurt am Main / München)
Der Blick nach unten. Fotografische Sozialdokumentation im frühen 20. Jahrhundert.

Wolfgang Hesse (Dresden)
„Die Eroberung der beobachtenden Maschinen“. Zur Utopie selbstbestimmten Lebens in der Arbeiterfotografie der Weimarer Republik.

Andreas Martin (Dresden)
Der industrialisierte Fluss. Elbschifferalltag auf den Fotografien von Emil Zöllner (1879 – 1948).

Uta Bretschneider (Veßra)
„Grüße aus Amerika“. Postkarten zur Textilsiedlung Amerika in Sachsen als Quellen der Industriegeschichte.

Miriam Halwani (Hamburg / Berlin)
Schönheit der Arbeit? Kontinuitäten und Brüche 1925 bis 1955.

Petra Steinhardt (Essen / Leipzig)
Produktiver Moment und Serialität. Zur Industriefotografie von Peter Keetman.

Karin Hartewig (Göttingen)
Corporate Identity der besonderen Art? Die Staatssicherheit in ihren eigenen Fotografien.

Stefanie Hoch (Linz, Österreich)
Das Ende der Illusionen. Die Mappe „Arbeit“ von Gundula Schulze Eldowy.

Julia Franke (Marburg / Berlin)
Bilder der Dienstleistungsgesellschaft. Zur fotografischen Repräsentation von Arbeit im digitalen Zeitalter.